Bergleuchten. Die Geschichte um das Tor zum Süden.
Vor dem Hintergrund der historischen Darstellung des gewagten Unternehmens der Gotthardbahngesellschaft mit dem Bau des Tors zum Süden spielt die Geschichte der Fuhrhalterfamilie Herger. Erzählt wird aus der Perspektive der Tochter der Familie.
Die historischen und technischen Fakten zum Tunnelbau sind gut recherchiert und werden, verwoben mit der Geschichte um die Charaktere, verständlich und keinesfalls trocken transportiert.
Die Geschichte spielt in Göschenen, wo mit dem Bau des Nordportals viele, hauptsächlich italienische, Gastarbeiter ins Dorf kommen. Die Fuhrhalter, die ihr Geld mit dem Transport von Waren über den Gotthard verdienen, fürchten um ihre Existenz, die Dorfbewohner um die Ruhe und Moral in ihrem beschaulichen Ort. Während der zehn Jahre vom Beginn der Bauarbeiten bis zur ersten Bahnfahrt durch den neuen Tunnel verdienen die geschäftigen Göschener an den Arbeitern und ihren Familien. Im Wissen darum, dass sie das Bauwerk nicht verhindern können, machen sie so das Beste daraus. Die „Italiener“ sind allerdings stetem Misstrauen und Anfeindungen durch die Dorfbewohner ausgesetzt. Als die Fuhrhalterfamilie Herger dem italienischen Mineur Piero eine Unterkunft vermietet, weiss die Tochter Helene nur zu gut, dass ihre Eltern eine Verbindung zu ihm niemals billigen würden, trotzdem verlieben sie sich, und die fiktive Liebesgeschichte spielt vor dem realen Hintergrund des Tunnelbaus. Durch die Identifikation mit den Charakteren aus dem Umfeld der Protagonisten erlebt man die Geschichte des Tunnelbaus hautnah mit. Man trauert um die Toten, freut sich über Erfolge und ist gerührt über die Geste der Ingenieure beim Durchstoss, welcher acht Jahre nach Baubeginn fast auf den Centimeter genau gelingt – zu dieser Zeit eine unglaubliche Meisterleistung von Vermessung und Baukunst. Die Arbeitsbedingungen im Tunnel sind allerdings miserabel, es gibt immer wieder Verletzte und Tote durch Explosionen, Einstürze und Krankheiten. Es kommt zu Aufruhr und zum Streik, was wiederum die Feindseligkeit der Einwohner gegenüber der Arbeiter befeuert. Louis Favre, der Leiter des gewagten Unternehmens, steht durch Verträge selbst enorm unter Zeit- und Erfolgsdruck, und so stellt er die Sicherheit der Arbeiter durch leichtsinnigen Umgang mit Sprengstoff, schlechter Belüftung im Tunnel und mangelhafter Hygiene hinter das möglichst schnelle Vorankommen auf der Baustelle.
Karin Seemayer unterhält ihre Leser mit spannenden Romanen, die in unterschiedlichen Erdteilen angesiedelt sind. Gleichzeitig vermittelt sie historische Tatsachen, und es gelingt ihr, von den beschriebenen Orten realistische Bilder aus der damaligen Zeit zu zeichnen. Bald wähnt man sich auf einer spektakulären Fahrt mit dem Pferdefuhrwerk auf den Kehren über den Gotthard oder auf der belebten Grossbaustelle im 19. Jahrhundert. Das Buch ist unterhaltsam und leicht geschrieben – und dabei durchaus lehrreich.
Andrea Zürcher